Mein Gehirn trägt Uniform 

(Ein Gedächtnisprotokoll)

Ich habe nie längere Texte mit Kreide an eine Wand geschrieben.
Aber mein Kopf behauptet, ich hätte es. Vielleicht sogar öfter.

Ich erinnere mich.  An das Rauschen im Wald. An die Stimme meines Freundes..An ein Bild in einem Schulbuch.Ich erinnere mich –und damit lüge ich präzise.

Die perfekte Fälschung

Die Erinnerung ist ein Kunstwerk. Aber keines von mir alleine geschaffen. Sie hat Kuratoren. Redakteure. Bühnenarbeiter. Sie setzt Licht. Sie retuschiert. Sie wirft Unschärfen, wo das Detail stört Ich glaube ihr. Weil sie klingt wie ich. Aber was klingt wie ich, ist nicht unbedingt ich. Es ist das, was ich geworden bin. In Sprache. In Geschichte. In Dressur.

Erinnern ist Design

Ich erinnere, was erzählbar ist. Was anknüpfbar ist. Was Sinn macht. Alles andere fällt durch das Raster. Wird Rauschen. Wird Nebel. Wird Nichts. Doch dieses Nichts ist kein Defizit. Es ist Widerstand. Ein Denkrest. Eine Asymmetrie im perfekt sortierten Ich.

Die Uniform: Kohärenz

Ich denke linear, weil ich so erinnere.Ich erinnere episodisch, weil ich so erzogen bin.
Ich erzähle mich so, wie denke, dass man mich verstehen kann Aber was ist mit all den Anderen, die ich auch wäre – Der Junge, der bei der Präsentation plötzlich nur noch die Farben der Tapete beschreiben wollte  – Der 22-Jährige, der in der Bibliothek überlegte, einfach alles zu vergessen – Die Version von mir, die nachts Gedichte schrieb, die kein Ich mehr hatten.Wo sind sie? Ausradiert. Wegen mangelnder Plausibilität.

Übung: Erinnerung als Widerstand

Wenn du willst, leg die Hand auf deinen Hinterkopf.
Dort sitzt nichts – aber es fühlt sich an wie der Speicher.

Jetzt:
Denk an dich mit 9 Jahren.
Dann an dich mit 14.
Dann vorgestern.
Dann in 30 Jahren.

Welche Bilder sind sofort da?
Welche fehlen?

Was fehlt – das bist du auch. Vielleicht mehr noch als das, was du erinnerst.

Das Hirn als Uniformschneider

Dein Gehirn liebt Klarheit.
Es liebt Ursache-Wirkung.
Es liebt Identität; natürlich eine die in der Story gewinnt.

Also bastelt es daraus ein Kostüm: eine Geschichte mit Anfang, Mitte, Wendung,
Lektion. Es nennt das: Persönlichkeit. Aber was, wenn genau das die besagte Uniform ist?

Vielleicht ist das Ich die beste Tarnung

Vielleicht ist dein echtes Denken brüchig.
Widerständig. Unverlinkt.
Vielleicht ist das „Unpassende“ das eigentlich Wahre.

Vielleicht ist es keine Schwäche,
wenn du dich nicht erinnerst –
sondern ein Rest von Freiheit.

PS:

Wenn dein Kopf dir sagt: „Ich bin so.“
frag zurück:
Wer spricht da eigentlich?