Sie sitzt auf einem Lotus, aufrecht, still. So zeigt sie ein Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert. „Pussa“, schreibt der europäische Gelehrte darunter. Was wir sehen, ist ein Bild. Was wir erkennen, ist ein Missverständnis. Und vielleicht – eine Ahnung.
Die Figur stammt aus China illustrata, einem Werk des Jesuiten Athanasius Kircher, erschienen 1667 in Amsterdam. Kircher wollte erklären, übersetzen, verbinden. Er sah in der fremden Gestalt eine Göttin, eine fernöstliche Version von Isis oder Kybele. Eine, die schützt. Eine, die bleibt. „Pussa“ ist Kirchers Annäherung an das chinesische „Pusa“, den Bodhisattva. In der buddhistischen Vorstellung ist ein Bodhisattva ein Wesen, das kurz vor der letzten Befreiung steht – aber umkehrt. Nicht aus Zweifel, sondern aus Mitgefühl. Die Welt leidet. Also bleibt Pusa. Leise, unbewegt, gegenwärtig.
Kircher zeichnete, was er sehen konnte: eine weibliche Gestalt auf einem Blütenkelch, zart, milde. Dass der Bodhisattva in den Ursprungstexten weder männlich noch weiblich sein musste, war ihm fremd. Ebenso die Idee, dass Barmherzigkeit nicht das Gegenteil von Stärke ist, sondern ihre radikalste Form.
Was an der Figur haftet, haftet nicht nur an ihr. Es haftet an uns: der Wunsch, Götter zu verstehen, indem man sie sich ähnlich macht. Die Vorstellung, dass Helfende mütterlich sein müssen. Die Annahme, dass Rettung von oben kommt.
Aber Pusa bleibt nicht oben. Pusa geht nicht weg. Pusa verweigert sich dem Austritt aus dem Kreislauf, nicht aus Schwäche, sondern aus Konsequenz. Wer erkannt hat, dass alles verbunden ist, kann nicht in ein Nirwana entweichen, ohne das Ganze mit sich zu nehmen.
Das ist kein theologisches Detail. Es ist eine Entscheidung. Gegen Reinwaschung. Gegen Rückzug. Für Präsenz. Für das Bleiben an Orten, die wehtun.
In einer anderen Erzählung, an einem anderen Ort, trägt ein Mann ein Kreuz. Auch er bleibt. Auch er geht nicht hinaus aus der Welt, obwohl er könnte. Auch er nimmt das Leid nicht als Fluch, sondern als Haltung an. Die Nähe zwischen dem Bodhisattva und der Figur Jesu liegt nicht im Glaubenssystem. Sie liegt in der Geste.
Beide hätten gehen können. Beide sind geblieben.
Was also lernen wir von Pussa, fast vierhundert Jahre nachdem Kircher sie auf dem Lotus fixierte? Vielleicht dies: Dass echte Barmherzigkeit nicht darin besteht, Antworten zu haben, sondern anwesend zu bleiben. Nicht, weil man muss. Sondern, weil man sieht. Und hört.
Und dann bleibt.